Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Professor Eberhard:
Ich freue mich, dass ich wieder einmal aufgrund meiner Ahnungslosigkeit eingeladen wurde, eine Ausstellung zu er�ffnen. Wie Sie wissen, bin ich fachfremd. Ich kenne mich nicht aus in der Szene. Ich bin ein Besucher, der keine Ahnung hat von Kunst, aber vielleicht ein paar Ahnungen. Oder um Karl Kraus abzuwandeln: "Es reicht nicht aus, keine Ahnung zu haben. Man mu� auch unf�hig sein, sie auszudr�cken." Genau darum geht es mir heute Abend, oder eigentlich geht es immer darum, wenn man sich visueller Kunst und Musik verbal n�hert. Die Begriffe sind Spelz der Sonnenblumenkerne, mit denen wir die Arenen der �ffentlichkeit bedecken. Kennzeichen von Kunst ist, dass sie immer gerade dort ist, wo der Begriff nicht ist: Hase und Igel. Trotzdem m�hen wir uns weiter redlich ab, die Kunst in Worte zu fassen, und manchmal wollen das die K�nstler auch selbst.
Heute abend werden wir mit den Werken von vier K�nstlern konfrontiert, die gemeinhin nicht mit Namen der sogenannten alten oder neuen Leipziger Schule aufgez�hlt werden. Ehrlich gesagt, st�rt mich das Label der "Schule" ohnehin. Es gibt n�mlich weder nur eine Leipziger Schule, noch sollte man �berhaupt in der Malerei immer in dieser Schulterminologie denken. Es ist eine Form von Bequemlichkeit, die sich zudem kommerzialisieren l�sst, wie alles, was zur Bequemlichkeit neigt. Ich wenigstens verbinde so manchen schlechten Traum mit Schule. Bis heute sehe ich mich in Tr�umen nachsitzen oder vier Jahre Mathematik nachholen. Wenn wir also nicht von Schule sprechen sollten, so stellt sich die Frage: warum stellen diese vier K�nstler gemeinsam aus? Haben sie �berhaupt etwas gemeinsam? Oder ist es der unreine Zufall, der sie zusammenbringt?
Diese Frage stellte sich mir immer dringender, je n�her die Ausstellung r�ckte. Warum hatte ich mich darauf eingelassen, gleich vier auf einmal vorzustellen?
Was macht man bei Problemen? Man sollte auf der Suche nach einer L�sung nicht, jedenfalls nicht nur in die Ferne schweifen, sondern ganz in der N�he suchen, denn meist liegt die L�sung auch dort, auf dem �langen Weg nach nebenan.� Unter der Nase gar. Und da fiel es mir wie Schuppen aus den Augen. Bislang habe ich mehrmals ein Wort gebraucht, dass diese K�nstler vereint: vier. Nach einem Sherlock-Holmes-Roman von Arthur Conan Doyle m�chte ich meine losen Gedanken daher so nennen: The Sign of Four/ Das Zeichen der Vier. Von nun an ging alles schnell und einfach. Die Vieren tauchten an jeder Ecke auf. Zum Beispiel sagte Gregor Gysi im Deutschlandfunk pl�tzlich, er liebe dieses Deutschland nicht so sehr als Vaterland, sondern weil es hier vier Jahreszeiten gibt und man mithin sozusagen klimatischen Zugang zu allen Formen des Wetters und der Temperatur auf der Welt habe. Das Klima ist also multikulturell, besser: eine Tetrakultur. Dann stellte ich fest, dass vier das einzige Zahlwort im Deutschen ist, das genauso viel Buchstaben enth�lt, wie der Zahlenwert, den es bedeutet! Im Russischen gilt das f�r die Drei, tri, im Spanischen f�r die F�nf, cinco. Mit anderen Worten, es geschieht hier etwas Seltenes: n�mlich die Zahl und die Sprache werden eins.
Gerade habe ich den Roman einer polnischen Autorin, Olga Tokarczuks Ur und andere Zeiten gelesen. Sie erz�hlt eine magisch-mythische Geschichte �ber Familien und Einzelg�nger in einem polnischen Dorf. Eine der Figuren ist ein leicht behinderter Mann, der wasserk�pfige Izydor. Gegen Ende seines Lebens entdeckt er die Zahl vier. Es beginnt damit, dass er ein Fernglas erh�lt, und nun stellt er fest, dass es vier Himmelsrichtungen gibt:
Dann entdeckte Izydor, dass die meisten wichtigen Dinge auf der Welt eine Vierheit bilden. Er nahm einen Bogen grauen Papier und zeichnete mit dem Bleistift eine Tabelle. Die Tabelle hatte vier Rubriken. In die erste Reihe schrieb Izydor:
Westen Norden Osten S�den
Und gleich darunter schrieb er:
Winter Fr�hling Sommer Herbst
Er hatte das Gef�hl, die ersten Worte eines au�ergew�hnlich wichtigen Satzes aufgeschrieben zu haben.
Von nun entdeckt er �berall in der Natur und in der Geschichte Vierheiten: Sauer, s��, bitter und salzig; Wurzel, Stengel, Bl�te, Frucht; Gr�n, Rot, Blau, Gelb; Auge, Ohr, Nase, Mund; Links, Oben, Rechts, Unten. Das ist nur der Anfang, und, meine verehrten Damen und Herren, Sie k�nnen sich jetzt daran machen, die Vierheiten auf die anwesenden K�nstler zu verteilen:
Die vier Propheten des Alten Testaments, die vier Fl�sse des Garten Eden, die vier Antlitze der Cherubim (Mensch, L�we, Ochse, Adler), die vier Evangelisten Matth�us, Markus, Lukas, Johannes, die vier Erztugenden Mut, Gerechtigkeit, Klugheit, M��igkeit. Die vier Komponenten der Alchemie, die vier Aspekte der Zeit oder die vier Elemente des Aristoteles.
Wir wollen es lieber nicht weitertreiben. Aber dieser Gang durch die Symbole und Wesenheiten des Universums bringt uns vielleicht tats�chlich auf eine Gemeinsamkeit der vier K�nstler zur�ck.
Symbolik, Zahl und Geometrie, aber auch der Widerstand zwischen Leben und Zahl, Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit spielen bei allen eine Rolle. Bei allen l�sst sich das Spiel, auch die Auseinandersetzung mit Polarit�ten feststellen: die Polarit�t geistiger Himmelsrichtungen und immer wieder der Versuch einer Ausrichtung auf ein Zentrum des F�hlens und Erlebens.
Im Folgenden einige, notgedrungen kurze Anmerkungen zu den einzelnen K�nstlern. Mehr als subjektive Assoziationen kann ich nicht bieten, aber sie k�nnen ja Ausgangspunkt Ihrer eigenen Betrachtungen werden. Vor der Ausstellung habe ich einige K�nstler in ihren Ateliers besucht.
Ich bin oft daran vorbei gefahren, an diesem kleinen Park, nicht weit von Aldi, im Leipziger S�dosten, in St�tteritz. In Huniats Freiluftgalerie erheben sich Masken und Figuren aus s�chsischem Laub und man f�hlt sich in Afrika. Die Seele sendet ihre Figuren in den Himmel. Das erste, was ich von dem K�nstler zu h�ren bekam, ist dieser Ausspruch von Karl Valentin: "Kunst ist sch�n, macht aber viel Arbeit." Er h�ngt zuf�lligerweise auch vor meiner T�r in der Uni. G�nter Huniat stammt aus B�hmen, er war M�beltischler und Sozialp�dagoge, aber ist seit 1971 freischaffender K�nstler. Er wie die anderen, die heute hier vertreten sind, sind auch schon zu DDR-Zeiten angeeckt und haben ihre schr�gen Bahnen befahren. Auf Huniats hier ausgestellten Bildern finden sich viele K�pfe, in denen baumartige Strukturen hineingemalt sind. In den K�pfen w�chst etwas, manchmal wissen es die Kopfbesitzer, manchmal nicht. Es k�nnen auch St�be sein, die etwas rigide sind und die Bewegung verhindern, Pulverst�cke, Opferst�cke, Gabeln und Telegraphenstangen. Mich erinnern diese Bilder auch an den merkw�rdigen Fall des Phineas Gage, der in die Geschichte der Neurologie eingegangen ist. Es handelt sich um einen amerikanischen Eisenbahnarbeiter im 19. Jahrhundert. Bei einem Unfall durchbohrte eine Stange seinen Kopf. Er �berlebte nicht nur, sondern schien auch nach der Heilung keine weiteren Sch�den davonzutragen. Und doch bemerkten seine Bekannten, dass er sich ver�ndert hatte. Er konnte alles, rechnen, schreiben und so weiter, nur f�hlen konnte er nicht mehr, er hatte keine Zu- oder Abneigungen mehr, keine Sympathie oder Empathie. Als F�hlender war er tot. So mu� es nicht mit diesen Bildern sein, aber sie erinnern daran, dass wir von Weltstangen gehalten wie durchbohrt werden k�nnen. Weltenbaum Yggdrasil, in dem wir wurzeln, oder technisches Gest�nge, mit dem wir uns entwurzeln.
Huniat tr�gt jetzt gerne kleine Schriftfragmente in die Bilder ein, so dieses: "Nein, sagte mein Gef�hl, aber�" � "Guru der Kleingl�ubigen" oder "als Schatten bist du eine Legende."
Solche Einschreibungen nimmt Harald Bauer ebenfalls gerne auf. Meist sind sie noch weiter verk�rzt, nur noch Zeichen, Kommunikationsreste oder Anf�nge von Kommunikationen. Zeichen an der Wand, herausgerissene, auf- und abgelesene Zeichen, Zu- und Abf�lle, Menetekel. Eine lockere unsichtbare Hand, die alles zusammenf�gt, v�llig entspannt. So taucht eine Zahl, eine Stra�ennummer in einem Tuch auf, eine Luftklappe, Buchstaben, hebr�ische Buchstaben, ein chinesisches Zeichen f�r den Genitiv, das aussieht wie eine sich in die Luft erhebende T�nzerin und auch dem Ideogramm f�r Mensch �hnelt. Karelische Bildzeichen, pr�historisch, postmodern zugleich. Auch damals gab es Fischer-Arts, die die Felsen endlos bedeckt haben mit ihren Kritzeleien.
Der Zufall leitet mich durch sein Atelier.
Zufall? Ja, aber er wird eingerahmt und dadurch zu etwas Bedeutendem. "Ich geb nichts Ungerahmtes raus � die Leute wollen heute die Bilder nur noch an die Wand nageln." Der englische Schriftsteller und Zeichner G.K. Chesterton sagte einmal, das wichtigste an einem Bild sei der Rahmen. Dar�ber k�nnte man philosophieren: �ber die sch�pferische Kraft durch Begrenzung. Das gilt auch f�r die R�umlichkeit, denn Harald Bauers Atelier, zumindest der untere Raum, ist niedrig. Wie er mir verriet, geht er nur noch abends in dieses Atelier, weil er dann etwas geschrumpft ist und besser reinpasst.
Harald Bauer stammt aus Ostpreu�en, er kam 1948 nach Leipzig, und machte sich ab 1958 auf den autodidaktischen Weg zur Malerei. Daneben lernte er Maschinenbau und wurde Ingenieur. Ab 1973 betrieb er auch Keramik. Nach der Wende brachten ihn Reisen nach Israel, Skandinavien und andere L�nder, Reisen, die auch f�r die Zuf�lle seiner Kunst reichhaltig waren. Er hat alleinerziehende M�tter und Arbeitslose in einer schwierigen Zeit aufgebaut, indem er sie in diesen Jahren in die Keramik und das T�pfern einf�hrte. 1994 gr�ndete er mit Huniat und Hael Yggs die Erste Leipziger . Man sieht die drei auf einem Foto, sie winken von einem Balkon herab.
In seinem Atelier war ich noch nicht, es gibt also keine hilfreichen Zuf�lle oder Zitate, nur die Bilder. Zum Beispiel die Katze auf dem roten Tisch. Oder ist der Tisch ein Abgrund und mithin die Katze ein Wunder? Wunder kommt von wundern, vielleicht ist Wunder auch eine Steigerungsform von Wunde? Also es gehen Rissen durch seine Realit�ten, die Wahrnehmung kippt. Auch bei den Aktbildern ist dies der Fall: ein Akt k�nnte zugleich ein Gesicht sein, das Gesicht ein Akt. Eine Hauswand k�nnte nur aus Fenstern bestehen, aus Fernsehapparaten, aus durchsichtigen Zellen. Eine Halluzination zwischen Plan und Bau.
Por�se Materie, und aus ihr dringen Gesichter. Eine Br�cke �ber einem Abgrund, oder ist die Br�cke der Abgrund?
Geboren wurde er in Hartha. Nach dem Kunstp�dagogikstudium in Leipzig war er in der Denkmalpflege, Werbung und Kulturarbeit t�tig. Wie Hael Yggs und Harald Bauer ist er Mitglied der Freiluftgalerie St�tteritz. Ich habe diese Galerie ja gesehen, aber wenn ich nur die Worte sehe, stelle ich sie mir so vor wie einen Fesselballon, der in Form eines langen Balkons �ber Leipzig schwebt.
Einen Zufall immerhin kann man bearbeiten. Der Name M�bius ist in ganz anderer Weise mit dem Kippen von Wahrnehmung verbunden, n�mlich durch den Leipziger Astrophysiker A.F. M�bius, dem Erfinder der M�biusschleife. Auf der Suche nach einer Fl�che, die nicht zwei Seiten, sondern nur eine h�tte, stiess dieser Gelehrte des 19. Jahrhunderts auf die schleifenf�rmig gefaltete Bahn. Wer einmal eine Figur dar�ber hinwegschickt, wird feststellen, dass diese Figur immer auf derselben Fl�che bleibt und trotzdem die Ober- und die Unterseite umwandert. Der holl�ndische Maler Escher hat die M�biusschleifen immer weiter verfeinert. Sie ist gleichsam ein Zugang zu einer anderen Dimension, vielleicht der vierten, und das bringt uns zur Quartessenz:
�ber seinen Namen m�chte ich lieber nicht meditieren, denn er folgt sowohl der alten Rechtschreibung wie der neuen sowie der reformierten neuen, bzw. modifizierten alten.
Sagen wir lieber sogleich, dass er existiert, dass er geboren wurde, und zwar vorwiegend in Bautzen, seit 1962 unter anderem als Segelflieger und Gitarrist t�tig war, Physik studierte, eine Zeitlang in Zwickau lebte und webte (warum nur schwache Verben f�r solche gro�en Worte? Also doch besser, wo er lob und wob), sich den Sternen verschrieb bzw. verschrob, der Schwerkraft sich enthob, der schwarzen Materie des Weltraums sich ergab, was alles mit nichts anderem zusammenh�ngt als mit diesen zeitweise ausge�bten Berufen des Fliegers und Musikers. Hael Yxxs ist der �berflieger und Obert�ner in dieser Ausstellung. Ich habe ihn Quartessenz genannt, weil er doch etwas anderes als die anderen drei arbeitet und denkt. Er ist also so etwas wie die 3,1� dieser Ausstellung, genauer auch 3,145, aber ganz genau wird man es nie angeben k�nnen, denn es handelt sich um eine Zahl mit unendlichen Stellen hinter dem Komma und sie hei�t bekanntlich Pi. Die Quadratur des Kreises findet niemals statt, weil diese Stellen hinter dem Komma nie aufh�ren werden, auch wenn New York inzwischen schon erstickt in dem Computerpapier, das zwei russische Br�der dort seit Jahrzehnten ausdrucken mit neu gefundenen Stellen. Jede Stelle ist unerwartet, sie ist nie vorauszusagen, so wenig wie die Arbeit des Hael Yxxs, der auch Pi selbst gerne anpixelt. Siehe hier die Installation. Man sagt auch, dass er mit Newton zusammenarbeitet, um die Bewegungen der Planeten bildlich oder akustisch umzusetzen. Was ihn von den anderen unterscheidet (und dadurch eben alle verbindet), ist, dass er sich auf einer vorausliegenden Tiefenstruktur mit der Wahrnehmung besch�ftigt.
Wahrnehmung selbst wird bei ihm beobachtet und analysiert. Bei Hael Yxxs l�st sie sich auf in ein neuronales Gewitter, in Punkte, und je n�her du an sie herangehst, um besser etwas erkennen k�nnen sehen, desto schlechter siehst du. So sind wir fortw�hrend Mitsch�pfer. Wahrnehmen hei�t miterschaffen. Und es kommt auf die Distanz an. Der Ma�stab erschafft und zerst�rt.
Wir haben nach diesen m�hsamen �berlegungen also festgestellt, da� 3 plus 1 vier ist und am besten als 3,14 auszudr�cken ist. Das Ergebnis ist wie gesehen unendlich, unendlich wie die M�glichkeiten der Vier: das Vierfarbenproblem der Kartographie (das erst 1979 gel�st wurde), die vier Finger von Micky Maus, die vier Gramm Salz, die sich in einem Liter Schwei� befinden oder Adams angebliche vier S�hne (zwei m�ssen unehelich gewesen sein). Drei mal vierzehn ergibt zu alledem noch 42, und das ist ja bekanntlich die Antwort auf alle Fragen des Universums. Uns gen�gen heute abend und noch f�r einige Wochen: vier K�nstler. Kolorieren wir unsere Landkarten mit ihren Farben, lassen wir uns von ihren Konturen, Grenzen und Landschaften, von ihrem Spiel mit Wirklichkeit und Unwirklichkeit inspirieren!
Und wenn Sie einen Rat brauchen, in welcher Verfassung man sich diesen Bpildern, oder vielleicht allen Bildern n�hern sollte, so kann ich diesen weitergeben. Ich fand den Ausspruch an der Wand in Harald Bauers Atelier:>
"Wenn du suchst, was ist das anderes, als Schall und Rauch nachzujagen. Wenn du nicht suchst, worin unterscheidest du dich dann von Erde, Holz und Stein? Du musst suchen, ohne zu suchen. (Fo Yan)
Elmar Schenkel