LVZ KULTUR
16. August 2012


„Alles voller Leute, ein buntes Leben"

Zu Gast bei Mattheuer und Rauch: Morgen erscheint im SeemannVerlag
Klaus Eberhards "Tagebuch eines Leipziger Kunstsammlers"

Klaus Eberhard, geboren 1940 in Dinslaken, war als Physiker Lehrstuhlinhaber in München und. ist seit seiner Pensionierung hauptberuflich Hotelier und Galerist in Leip­ zig. Sein hiesiges Galerie Hotel Leipziger Hof, das kokett mit dem Slogan wirbt "Hier schlafen Sie mit einem Original", beherbergt eine bedeutende Sammlung ostdeutscher Kunst - mit deutlichem Schwerpunkt auf den Werken von Leipziger Künstlern. Unmittelbar nach der Wende kam Eberhard nach Leipzig, 1992 eröffnete in der Hedwig­ straße im Osten des Stadtzentrums sein Hotel. Seither ist seine Sammlung beständig gewachsen, zählt mittlerweile weit über 300 Bilder. Und seither hat der Professor, der beinahe ebenso musik- wie kunstbegeistert ist, Tagebuch geführt. Seine Aufzeichnungen handeln von den Behörden-Wirrnissen und der Goldgräber-Stimmung der Nachwende-Jahre. Von der anfänglichen Geringschätzung der spezifischen Kunst in Leipzig. Vom wachsenden Selbstvertrauen und dem einsetzenden Boom. Als Sammler und Investor war Eberhard




Klaus Eberhard: Zu Gast bei Mattheuer und Rauch. Tagebuch eines Leipziger Kunstsammlers. E. A. Seemann; 304 Seiten mit zahlreichen Abbildungen,
19,95 Euro
nah dran an den Entscheidem und kulturellen Exponenten der wieder aufblühenden Stadt. Bei den Großkünstlem von früher und von morgen ging und geht er ein und aus, und was sie ihm erzählten, ist unbedingt lesenswert. Denn wie der Tagebuchschreiber nehmen auch die, die er traf, meist kein Blatt vor den Mund. Drum ist es schön, dass der Seemann Verlag das Tagebuch der Jahre bis 2004 nun veröffentlicht. Es sind persönliche Erinnerungen, die ihren Schwerpunkt nicht auf Korrektheit legen, schon gar nicht auf politische. Das macht sie um so interessanter. Ab morgen liegt das Buch in den Läden, ein Kapitel drucken wir heute bereits in Auszügen ab. Es führt uns in den Sommer 1995, als das Ehepaar Mattheuer bei Eberhard im Hotel zu Gast war.

»Man traut sich nicht, man fürchtet eine Verherrlichung der Ostkunst.«
Wolfgang Mattheuer auf meine Frage nach einer umfassenden Ausstellung
der Leipziger Schule

August 1995


Die Ferienzeit in Bayern hat begonnen und die Lufthansa hat den von mir gebuchten Flug mit der kleinen Turboprop-Maschine von München nach Leipzig gestrichen. Jedenfalls nehme ich das als Grund an. Schon mehrmals war mir aufgefallen, dass Flüge wegen vorhersehbarer geringer Auslastung ausfielen, zum Beispiel an Feiertagen unter der Woche. So fliege ich mit der Abendmaschine und kann erst gegen 21 Uhr im Hotel sein. Ich rufe bei Mattheuers an und bitte darum, uns erst um 21 Uhr im Hotel zu treffen.

Nach der Vorspeise führe ich Mattheuers und eine Bekannte von mir, Christine, die Purserette bei der Lufthansa ist und heute zufällig einen Stopover in Leipzig hat, durch die Sammlung im Hotel. Zu meiner überraschung kennt Mattheuer eine Reihe von Malern im Hause nicht besonders gut. Bei einem Bild von Joachim Scholz sagt er: »Aha, Dornis.« Das passiert ihm einige Male. Die meisten Maler und ihre Bilder kennt er jedoch gut: Günter Richter, Gerald Müller-Simon, Hanns Rossmanit und weitere.

Mit der Hängung seines handkolorierten Linolschnitts Der Jahrhundertschritt in der Lobby, gegenüber einer Lithografie von Heisigs Max Beckmann, ist er zufrieden. Christine gegenüber stelle ich ihn als einen der größten Künstler in Deutschland vor.

»Künstler ist heute jeder«, ist Mattheuers scherzhafter Kommentar, »seit Josef Beuys seine Kriterien aufgestellt hat, wer ein Künstler ist.«

Wir lachen.

»Meine Frau und ich sind Bildermacher«, stellt er klar.

Als wir wieder am Tisch sitzen, hat Mattheuer in seinem Blickwinkel das Bild Tischgesellschaft von Günter Albert Schulz.

»Wissen sie«, sagt er, »wenn die SED die Maler aufforderte, sich mit den Bauern auf dem Lande zu beschäftigen, oder sonstige Richtlinien vorgab, waren Günter Albert Schulz und Heinz Wagner die ersten, die das machten. Sie wollten der Partei gegenüber Musterschüler sein. Günter Albert Schulz malte jeden neuen Traktor, der aus Russland kam«, sagt er höhnisch. »Und heute preist Dr. Meißner, der ewige Opportunist, die Bilder der beiden an und macht für die Dresdner Bank einen Kalender damit.«

Ich muss schmunzeln, denn zur Vorstellung des großformatigen, sehr aufwändig gemachten Kalenders war ich Ende letzten Jahres eingeladen und war auch dort. Nicht nur Schulz und Wagner, auch andere Leipziger Künstler sind in dem Kalender vertreten. Man hatte mir ein Exemplar geschenkt. Es war das erste Mal, dass ich Heinz Wagner traf und kennerlern _ te. Wir hatten uns bestens unterhalten.

Sehr positiv spricht Mattheuer über die Arbeiten von Wolfram Ebersbach in unserem Hause. Als ich ihn später frage, mit welchem Leipziger Maler wir unsere Galerie eröffnen sollten, schlägt er ihn vor.

Ich erzähle ihm, dass ich die Bilder von Ebersbach in der Galerie Blüthner über den Kurator Claus Baumann gekauft habe. Mattheuer macht sich über Baumann lustig.

»Auf dem Symposium der Kustodie im letzten Jahr mit dem Titel Kunst und Wissenschaft, Wissenschaft und Kunst, veranstaltet von Behrends, hat Baumann die Kunst von Sylvester erklärt«, lacht Mattheuer.

Offensichtlich hält er nicht viel von Baumann als Kunsthistoriker.

»Im Westen nennt man diese Leute Kunsthistoriker«, klärt Mattheuer mich auf, »in der DDR hießen sie KunstwissenschaftIer, aber heute nen nen sie sich auch hier Kunsthistoriker.«

»Im Westen hat es nicht nur Kunsthistoriker gegeben, sondern auch einige wenige, die sich Kunstwissenschaftler nannten«, kläre ich ihn auf.

»Diese kleine Gruppe der KunstwissenschaftIer im Westen versuchte, über die Beschreibung der Bilder hinaus zu einer wissenschaftlichen Interpretation zu kommen und gründete einen eigenen Verein in Abgrenzung von den Kunsthistorikern. Mehr oder minder sei dies jedoch gescheitert, sagte mir vor kurzem eine Bekannte in München.«

»Da wir schon ins Semantische geraten sind«, wende ich mich an Mattheuer, »möchte ich Sie gerne etwas fragen. Was halten Sie vom Begriff Leipziger Schule? Ist der Begriff sinnvoll? Er wird so unterschiedlich gesehen und interpretiert. Sie sind zusammen mit Heisig und Tübke einer der drei Väter dieser Schule. Was ist dran an der Leipziger Schule?«

»Das Spektrum dieser sogenannten Leipziger Schule ist breit«, beginnt er.

»Das Zeichnen ist wohl das bestimmende Merkmal und das umfassende Kriterium für die Leipziger Schule. Aber auch die Arbeiten von Sylvester und von Kissing beispielsweise gehören zur Leipziger Schule.«

»Die Leipziger Schule sollte einmal in einer umfassenden Ausstellung gezeigt werden«, werfe ich ein.

»Ja, ich stimme Ihnen zu«, fahrt er fort und ergänzt, »gerade wegen der großen Vielfalt und der Schwierigkeit, den Begriff der Leipziger Schule genau zu fassen, wäre eine solche Ausstellung interessant und wünschenswert. Aber man traut sich nicht«, sagt er mit großem Ernst. »Man fürchtet eine Verherrlichung der Ostkunst.«

Ein wenig provokant schlägt Ursula Mattheuer-Neustädt vor: »Klaus Werner sollte eine solche Ausstellung machen und nicht nur seine zeitgenössische Kunst präsentieren.«

Mattheuer hält hiervon nicht viel.

»Wissen sie«, sagt er zu mir, »Werner war lange im Ministerium, so etwas prägt.« Mehr sagt er hierzu nicht und ich hake auch nicht nach.

Ich lenke unser Gespräch auf die Sammlung im Hause.

»Ist Ihnen bei unserem Rundgang vorhin ein Maler in den Sinn gekommen, den Sie für Wlsere Sammlung empfehlen würden?«, frage ich ihn.

Seine spontane Antwort: »Karl Krug.«

leh erzähle ihm, dass ich Arbeiten von Karl Krug in der Galerie am SJchsenplatz gesehen habe.

»Gibt es einen Nachlass von Krug?«, frage ich Mattheuer.

»Nein, soweit ich weiß, gibt es keinen«, ist seine Antwort.

»Ich habe jedoch einige Arbeiten von Karl Krug. Wenn sie Ihnen gefallen, kann ich Sie Ihnen ausleihen.«

Er erzählt dann von einer Zeichnung, die er ganz in der Nähe des Hotels gemacht hat:

»Ich habe vor Jahren eine Zeichnung von der Umgebung Ihres Hotels gemacht.Ich stand auf der Brücke beim Torgauer Platz mit Blick auf die Eisenbahngleise und auf Ihre Kirche hier im Neustädter Markt«, sagt er.

»Die Zeichnung ist auf Sperrholz und sollte ein Ölbild werden. Ich fand sie jedoch sehr gut und entschloss mich, sie nicht mit Ölfarben zu verunstalten «, fügt er scherzend ein.

»Kommen Sie bei mir vorbei, ich zeige sie Ihnen gerne. Wenn sie Ihnen gefällt, können Sie die Zeichnung erwerben. Sie haben ohnehin noch längst nicht alles gesehen; bei Ihrem Besuch habe ich Ihnen ja nur die zweihundert Arbeiten gezeigt, die in der Wohnung hängen. Ein Raum steht noch voll mit Arbeiten, die Sie nicht kennen.

Meist werden meine zeitkritischen und politischen Bilder, wie hier bei Ihnen mein Jahrhundertschritt, zu sehr in den Vordergrund gestellt. Doch meine Landschaftsbilder und Zeichnungen sind genauso gut wie meine politischen Arbeiten. Ich würde mir wünschen, meine Vogtland-Bilder und andere romantische Arbeiten fänden ein stärkeres Interesse. Wenn Sie die soeben angesprochene Zeichnung mit dem Stadt motiv dieses Viertels hier neben den Jahrhundertschritt hängen, wäre das ein gutes Gegengewicht.«

Mattheuer ist lange nicht mehr im Neustädter Markt gewesen. »Hier ist man am weitesten zurück in der ganzen Stadt«, sagt er, »selbst in Plagwitz ist man schon viel weiter. Es wird allmählich schwierig für Günther Richter, seine Motive von heruntergekommenen Häusern und Ruinen zu finden «, scherzt er, »ich werde ihn auf die Gegend hier hinweisen.« Typisch Mattheuer, denke ich mir bei seiner Bemerkung.

Wir kommen auf die immense Bautätigkeit in Leipzig zu sprechen. Grundsätzlich hält Mattheuer das meiste, was gebaut wird, von der Architektur her für in Ordnung.

»Natürlich werden bei einer so rasanten Entwicklung auch Fehler gemacht«, konzidiert er.

»Früher gab es überhaupt keine Architektur«, sagt er, »davon spricht heute niemand mehr. Viele Leute mäkeln an Kleinigkeiten herum, deuten auf Fugen, die nicht messerscharf genau sind. Haben die Leute ihre Erinnerung völlig verloren? Am Samstagabend sind wir über den Marktplatz geschlendert, alles voller Leute, ein buntes Leben, so etwas hat es früher nicht gegeben.

«Er schaut unseren Hoteldirektor Reinhold, einen Leipziger, der bei uns sitzt, an und fragt: »Oder haben Sie so etwas früher gesehen?«

»Ich freue mich über die schnelle Entwicklung der Stadt, und hoffe sehr, noch zu erleben, dass in Leipzig wieder alle Baulücken geschlossen sind«, ergänzt er.

Ich spreche die Kunst am Bau an, angeregt durch Peter Guths Buch Wände der Verheißung.

»Diese war in der DDR genau so schrecklich wie im Westen«, meint er. »Arnd Schultheiß war zwanzig Jahre lang Vorsitzender der Kommission Kunst am Bau«, berichtet er.

»Die Kommission stimmte der Vergabe immer zu, allein schon aus dem Grund, weil bereits ausgemacht war, wer bei den nächsten Vergaben berücksichtigt werden sollte, nämlich genau diejenigen, die diesmal zuzustimmen hatten.

Beim endgültigen Abriss des im Krieg stark zerstörten und nicht wieder aufgebauten Gewandhauses in der Mozartstraße im Jahre 1968 stand ich in der Nähe und schaute zu«, erzählt Mattheuer. »Plötzlich rollte ein Mozartkopf auf der Straße auf mich zu. Ich nahm ihn mit nach Hause.«

»Denken Sie daran, ihn anzuschauen«, sagt mir seine Frau, »wenn Sie das nächste Mal zu uns kommen. Ein wunderschönes Exemplar, der Kopf steht in unserer Wohnung.«

Zwei Arbeiten von Mayer-Foreyt hängen im Restaurant, das Ölbild Studentenfasching und das Aquarell Cafe Centra.

»Mayer-Foreyt war lange im Krieg und in Kriegsgefangenschaft, er wollte möglichst schnell aufholen«, nimmt Mattheuer ihn in Schutz, ohne dass irgendeine negative Bemerkung zu ihm gefallen ist.

Es erinnert mich an die Worte von Frau Mayer-Foreyt, dass Massloff dies geschickt ausnutzte, um aus seinem Schüler und späteren Assistenten einen Mustersozialisten zu machen.

Vor kurzem sind die Mattheuers zum 70. Geburtstag von Peter Ludwig nach Köln gefahren. Der Stolz ist Mattheuer anzumerken, dass er von Ludwig eingeladen wurde.

»Die meisten Museumsdirektoren können Ludwig nicht leiden«, sagt er.

»Der Grund ist einfach. Sie sind Angestellte, sind allen möglichen Leuten Rechenschaft schuldig, müssen ständig fragen, ob sie etwas ankaufen dürfen oder nicht. Ludwig dagegen kann machen, was er will, ist niemandem Rechenschaft schuldig.«

»Von Köln aus entschlossen wir uns zu einer Fahrt ins Blaue. Es war sehr heiß, aber zum Glück haben wir ein klimatisiertes Auto, ich komme schlecht gegen die Hitze an«, berichtet Mattheuer.

»Wir fuhren in die Eifel, das Saarland, das Elsass und schließlich nach Reutlingen, wo gerade eine Grafik-Ausstellung von mir gezeigt wird. Die Ausstellungsleiterin hatte mich übrigens gebeten, ihr die Holzstöcke zu überlassen. Ungesäubert, hatte sie mir eingeschärft, genauso wie ich sie beim letzten Druck verwendet hatte. Bei vielen Holzstöcken konnte man überhaupt nichts mehr erkennen, aber sie wollte es so. Ich habe ihr die Holzstöcke gerne überlassen. So komme ich nicht in Versuchung, Nachdrucke zu machen«, fügt er scherzend hinzu.

Zu meiner Überraschung lobt er Judy Lybke als Galeristen, hebt besonders hervor, dass dieser schon zu DDR-Zeiten seine Galerie Eigen+Art gegründet hatte.

»Haben Sie gelesen, wie er vor kurzem einen Journalisten der Süddeutschen Zeitung empfangen hat?«, frage ich Mattheuer.

Hier ist kein Zoo! Wir sind nicht eure Exoten, sagte er zu ihm.«

Das gefällt Mattheuer.

»Vom Prenzlauer Berg in Berlin hörte ich«, sagt Ursula MattheuerNeustädt, »dass Bewohner ein Schild an ihre Häuser angebracht haben "Bitte nicht füttern".«

Der Prenzlauer Berg zieht viele westdeutsche Besucher an, wohl auch, weil die Zeitungen ständig über die Wohnsituation dort und über Vorfälle berichten.

Mattheuer berichtet über Gespräche mit Kollegen.

»Viele sind unzufrieden, denken fast nostalgisch an die DDR-Zeit zurück und sind oft nicht willens, selbst Initiative zu ergreifen. Sie machen alles Mögliche, um ABM -Stellen zu bekommen«, stellt Mattheuer fest.

»Dann wiegen sie sich in Sicherheit.«

Er fügt ein Beispiel von einem Schüler von ihm an:
»Nach der Ausbildung ging er von Leipzig weg. Es war ihm klar, dass es in Leipzig viel zu viele bildende Künstler gab - und meiner Meinung nach auch heute noch gibt - und ging nach Schwerin. Dort lebten nur zwölf bildende Künstler. Er erhielt ein schönes Haus und bekam eine Menge Auftragsarbeiten, sodass er gut leben konnte. Dies war zur DDR-Zeit. Heute muss man als Künstler genauso versuchen, seinen Lebensunterhalt dort zu verdienen, wo es möglich ist, und das aus eigener Kraft.«

Ich bringe das Beispiel der Kunstförderung in Holland in unser Gespräch ein, das in diesen Tagen für Kopfschütteln sorgt.

» Über viele Jahre kaufte der Staat von den Künstlern Arbeiten auf, wenn diese ihr Examen bestanden hatten. Man wollte ihnen so beim Start helfen und den Lebensunterhalt sichern. Vor einigen Monaten nun stoppte die Regierung dieses Programm, da einfach nicht mehr genügend Raum zur Lagerung der vielen Arbeiten vorhanden war. Man versuchte, die Arbeiten zu verkaufen. Doch dies gelang bei kaum einer der Arbeiten aus dem riesigen Fundus und auch die Museen winkten ab. So wurden die Künstler schließlich aufgefordert, ihre Arbeiten kostenfrei wieder abzuholen, ansonsten sehe man aus Platzgründen keine andere Möglichkeit, als sie zu vernichten.«

Mattheuer geht wohl davon aus, dass ich weiß, dass er und Werner Tübke sich nicht besonders gut verstehen. Wann immer die Rede auf die Leipziger Schule kommt oder sonst wie ein entsprechender Zusammenhang entsteht, lässt Mattheuer einfließen »und natürlich Tübke«. Zu später Stunde, es ist lange nach Mitternacht, locke ich ihn ein wenig aus der Reserve: Auf meine Frage nach seiner Meinung zur Klage von Tübke gegen seinen Schüler Eberhard Lenk, der für ein Hotel in Bad Frankenhausen ein fast identisches Bild aus Tübkes Bauernkriegspanorama nachgemalt hat, antwortet er:

»Hiermit kann Tübke sich nur selbst schaden. Eine Woche vor der Einweihung des Panoramabildes in Bad Frankenhausen hat er Lenk entlassen, um den Eindruck zu erwecken, er habe alles selbst gemacht.«

Eberhard Lenk war einer der Muster- und Meisterschüler von Tübke, konnte fast malen wie Tübke selbst und half ihm viele Jahre beim Panoramabild in Bad Frankenhausen.

»Ich habe damals Eberhard Lenk mehrmals zu bedenken gegeben, doch ein eigenständiger Maler zu werden«. meint Mattheuer.

Als wir das Thema wechseln und ich von meinem Zusammentreffen mit Silbermann und Solga in der Lach- und Schießgesellschaft in München erzähle, fragt Mattheuer sofort »Hat Silbermann was über mich gesagt?«

»Nein«, sage ich, »über Sie nicht.«

»Angepasst durfte man sein, Opportunist nicht«, bringt Mattheuer seine orakelhafte Beurteilung auf den Nenner und fügt noch hinzu: »Einige wollen sich heute auch mit ihrer Vergangenheit in der DDR profilieren. Der Schüler in Schwerin, von dem ich vorher sprach, stellte einen Antrag auf Einsicht in seine Stasi-Akte. Es gab jedoch keine. Können sie sich seine Enttäuschung vorstellen?«, fragt Mattheuer.

Gegen 1 Uhr fahren Mattheuers mit dem Taxi nach Hause. Bei der Verabschiedung mache ich Mattheuer ein Kompliment.
»Es ist eine Freude, Ihnen zuzuhören«, sage ich, »Ihre Formulierungen sind exakt, prägnant, fast schon druckreif.«
»Sie machen mich verlegen«, sagt Mattheuer. Beide winken aus dem Taxi zurück.